Silber-Grusel-Krimi Nr. 384: Die Totenkammer von Carpossos
Silber-Grusel-Krimi Nr. 384: Die Totenkammer von Carpossos


Sie war gerade fünfundzwanzig und trug ein schwarzes Gewand - wie alle trauernden Frauen in Carpossos. Das Kopftuch hatte sie weit ins Gesicht gezogen, deshalb sah niemand die Tränen. Ihre Schritte waren unsicher. Von Zeit zu Zeit mußte sie sich an ein Grabkreuz lehnen, damit sie nicht vor Erschöpfung zusammenbrach. Jannis Papaderos schlich an der weißgetünchten Kapelle vorbei und verschwand hinter einer niedrigen Tür, die sich leise in den Angeln bewegte. Dämmriges Licht umfing die Frau. Sie schloß sekundenlang die Augen, um sich an die Dunkelheit schneller zu gewöhnen. Sie hätte auch blind die Stelle gefunden, doch von Zeit zu Zeit gab es in dem winzigen Raum Veränderungen. Deshalb durfte sie sich auf ihr Gedächtnis nicht verlassen. In der Kammer duftete es nach Bienenwachs, nach Eukalyptusöl und Zitronenblüten, der Geruch von feuchtem Holz sickerte durch. Auch das uralte Mauerwerk roch modrig. Die Glasscheibe des einzigen Fensters war undurchsichtig. Das Tageslicht von draußen schimmerte nur unwirklich.


von Wolfgang Rahn, erschienen am 15.09.1982, Titelbild: ???