Silber-Grusel-Krimi Nr. 67: Die Lady mit den toten Augen
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Roy Evans richtete sich auf, fuhr mit der Hand durch die Haare und verließ
das Bett. Sein Blick fiel auf den altmodischen Wecker. Erst halb zwölf.
Er fühlte eine Unruhe und Nervosität, die er sich nicht erklären
konnte. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Es war zu warm und die Luft
drückend, eine Seltenheit hier in dieser Gegend. Roy Evans trug nur
einen Schlafanzug, als er das kleine, abseits gelegene Haus verließ.
In der bergigen Gegend lebte so gut wie niemand. Der nächste Ort war
zehn Meilen entfernt. Obwohl Evans sich leise verhielt, entging seiner
Mitbewohnerin nicht, daß die Tür ins Schloß fiel. "Was ist
denn los, Roy?" Das war die Stimme seiner Mutter, die oben ihren Schlafraum
hatte. Die alte Frau lebte allein mit ihrem Sohn. "Ich kann nicht schlafen.
Ich gehe kurz raus, um frische Luft zu schnappen." Evans atmete tief die
Luft ein. Er wohnte seit seiner Geburt hier, war jetzt sechsunddreißig,
konnte sich aber nicht daran erinnern, je einen so heißen Sommer erlebt
zu haben. Die Nacht war lau, der Himmel hing voller Sterne und spannte sich
wie ein riesiges Zelt über die gebirgige Landschaft von Nordwales.
Plötzlich raschelte es. Roy Evans wandte den Kopf. Da stand jemand ...
Ein junge Frau. Der helle Schein des Mondes lag auf ihrem bleichen, schmalen
Gesicht. Die großen Augen sahen aus wie dunkle Höhlen, in denen...
Das war es! Evans merkte, wie es ihm eiskalt über den Rücken rieselte.
Die Fremde hatte keine Augen im Kopf!
von Jürgen Grasmück, erschienen am 23.04.1974, Titelbild: Prieto
Muriana
Rezension von
Florian
Hilleberg:
Kurzbeschreibung:
Auf der Fahrt nach London treffen die PSA-Agenten Larry Brent und Iwan
Kunaritschew in Nordwales auf eine umherirrende Frau, der man die Augen
herausgeschält hat. Zunächst glauben sie nicht daran, dass es ein
Fall für die PSA sein könnte, doch als am nächsten Morgen
die verletzte Frau aus ihrem Krankenbett verschwunden ist, stellen die Agenten
Nachforschungen an. Die Spuren führen zu Lord Billerbroke, der sein
Schloss zu einer Nervenheilanstalt umfunktioniert hat, wo er Geisteskranken,
die keine Angehörigen haben, helfen will. Larry gibt sich als Scotland
Yard-Beamter aus, der jeglichen Verdacht gegen Billerbroke und Dr. Hill
ausräumen will, während Iwan über den ersten Butler des Lords
recherchiert, der ebenfalls in einer Psychiatrie einsitzt. Doch schon bald
überschlagen sich die Ereignisse und Larry Brent verfängt sich
in einem Netz aus Rätseln und Geheimnissen. Wer ist die junge Frau ohne
Augen, die er am Fenster des Lords gesehen hat? Welche Rolle spielte der
merkwürdige Meteorit der vor fünfzig Jahren in dieser Gegend einschlug?
Ist es Zufall, dass gerade jetzt wieder ein Himmelskörper zur Erde
stürzte?
Meinung:
Ein unheimlich spannender, atmosphärisch dichter Gruselroman in bester
Dan-Shocker-Tradition mit einer gehörigen Portion Brutalität. Als
der jungen Frau die Augen herausgeschnitten werden, kann einem beim Lesen
schon ganz anders werden. Das liegt vermutlich daran, dass der Autor in diesem
Roman mit einer der Urängste des Augentieres Mensch spielt: Dem Verlust
der Sehkraft. Die Augen gehören zu unseren wichtigsten Sinnesorganen
und sie auf eine so brutale Art und Weise zu verlieren geht wirklich unter
die Haut. Wenn Dan Shocker beschreibt, wie die armen Wesen ziellos durch
stockdunkle Nächte irren, oder die Opfer des Wahnsinnigen eingepfercht
in einem Verlies dahinvegetieren, wird eine neue Tür des Grauens
aufgestoßen. Auch der Plot der Geschichte ist überzeugend, wenn
auch ein wenig surrealistisch, aber dass passt zu dieser Irrenhausgeschichte.
Allerdings gibt es auch Punkte, die mich etwas störten. Über die
Darstellung der Nervenheilanstalt sehe ich jetzt mal hinweg, als der Roman
nämlich das erste Mal erschien, war in der Psychiatrie noch vieles anders,
und zudem habe ich mich zu dem Thema bereits an anderer Stelle ausgelassen.
Aber dass Lord Billerbroke sich nur zusammen mit seinem Butler Burke und
dem Arzt Dr. Hill um über 80 (!) Patienten kümmern soll, ist gelinde
gesagt lächerlich. Selbst wenn die meisten sich noch selbst versorgen
können, braucht man, um eine Eigen- und Fremdgefährdung zu verhindern
eine angemessene Personalbesetzung, die eine 24 Stunden-Betreuung
ermöglicht. Dass keine leichten Fälle dort einsitzen hat der Lord
selber gesagt. Ein weiterer Punkt ist die stümperhafte Vorgehensweise
der unheimlichen Augenmörder. Als sie einer jungen Frau die Augen entfernen
und von ihrem Ehemann angegriffen werden, können sie sich nur mit
großer Mühe, dem aufgebrachten Mann erwehren, obwohl einer der
beiden später eine Pistole zückt. Warum hat er die nicht schon
auf seinem Beutezug dabei gehabt und warum töten sie den Mann nicht
und lassen stattdessen einen Zeugen leben? Mit einem Phantomzeichner der
Polizei wird man schnell herausfinden können, wer hinter dem Überfall
steckte. Dann einfach zu behaupten der Lord könnte es nicht gewesen
sein, nur weil Larry sich nicht gemeldet hat, ist einfach stümperhaft
von unserem Chief-Superintendent. Ansonsten bietet der Roman wirklich spannende
Unterhaltung, einer der beklemmendsten Larry-Brent-Romane die ich je gelesen
habe.
4 von 5 möglichen Kreuzen:
Kommentare zum Cover:
Das Cover ist ziemlich gelungen, auch wenn mich die komische Ratte links
im Bild etwas gestört hat. Ansonsten gibt das Titelbild die Stimmung
des Romans hervorragend wieder.
Coverbewertung:
Ein Zusatzhinweis zu dem Titelbild kommt von Michael Schick:
Das Titelbild des Larry Brent Romans von Prieto Muriana wurde auch schon
auf dem Cover des in der Reihe TERROR erschienenen spanischen Horror-Comics
"LOS OJOS DE CHARLOTTE" (auf deutsch: Die Augen der Charlotte) verwendet.
Das Comic wurde von Mortimer Cody gezeichnet: