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"Das Drachenei" von Alexander Lohmann
Es war dunkel geworden. Durch die großen Fenster fiel nur wenig Licht
in die Halle. So war der schwarz gekleidete Mann neben der Glasvitrine beinahe
unsichtbar. Er legte ein Tuch auf die Vitrine und stellte eine Taschenlampe
darauf. Durch das Tuch leuchtete die Lampe sanft in den Glaskasten. Ein silbernes
Ei lag dort auf einem Kissen aus rotem Samt. Das Ei war so groß wie
zwei geballte Fäuste und mit goldenem Rankenwerk verziert, das matt
glänzte. Der Mann zog einen Schraubenzieher hervor. Es dauerte nur einen
Augenblick, bis er die vordere Scheibe abhob. Er zögerte kurz. Doch
schließlich griff er nach dem Ei und zog es heraus. Einen Moment lang
hielt er es abwägend in der Hand. Da ging draußen auf dem Flur
das Licht an...
"Der Janus-Engel" von Klaus Sollert
Brian Donner schaltete den Motor des Rover ab. Er war angekommen. Das Zielobjekt
lag genau vor ihm - und war so trostlos, wie er es sich vorgestellt hatte.
Friedhöfe waren noch nie sein Fall gewesen. Sie erinnerten ihn an etwas,
obwohl er nicht genau sagen konnte, woran. Aber so war es mit allen Erinnerungen,
die seine Vergangenheit betrafen. An seine Jobs konnte er sich in alle
Einzelheiten erinnern. An jeden einzelnen Mord, den er jemals ausgeführt
hatte. Doch der Rest seines vergangenen Lebens bestand nur aus einem diffusen
Nebel, den er nicht durchdringen konnte. Vielleicht war das auch gut so.
"Killer sollten keine Erinnerungen haben...", murmelte er.
"Dämonennächte" von M'Raven
Aus den Augenwinkeln nahm Nick Raymond die Frau wahr, die an der
Straßenecke stand und ihn ungeniert musterte. Als ob sie auf ihn Warten
würde. Auf ihn und keinen anderen. Nick vergaß, dass er eigentlich
Zigaretten holen wollte. Sie war der Fleisch gewordene Traum seiner schlaflosen
Nächte und hormongesteuerten Fantasien. Schlank, schwarzhaarig,
glutäugig, langbeinig, mit einer Figur, die mit jeder Faser "Sex"
buchstabierte. Er musste sie haben! Sofort!