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"Engel der Finsternis" von Markus Kastenholz
»Es wird Zeit, mein Freund«, flüsterte die Gestalt auf dem
Hochhausdach. Ihre Arme hatte sie weit ausgebreitet, fast als wollte sie
die hereinbrechende Nacht umarmen. Ihre Stimme-warso leise, kein menschliches
Ohr konnte sie vernehmen, selbst wenn ein Mensch direkt neben ihr gestanden
hätte - und sie war auch nicht für menschliche Ohren bestimmt.
Sie war lediglich ein vager Hauch wie das Wispern des Windes, fragil und
zerbrechlich. Und die Gestalt selbst, deren elegantes Antlitz vor erhabener
Schönheit zu glänzen schien, war zu schön, um je von einem
sterblichen Auge erblickt werden zu dürfen...
"Auf der Spur der Leichenräuber" von Klaus Sollert
Geisterschatten. Ja, genauso hatte sein Großvater die Nebelschwaden
genannt, die London im Herbst heimsuchten. Der alte Herr hatte für viele
Dinge seine ganz eigene Bezeichnung gehabt. Es war seine Art gewesen, sich
von der Masse abzuheben. Tom Stark lächelte, als er an seinen Opa dachte.
Er hatte ihn voller Inbrunst geliebt. Wahrscheinlich war jeder Enkel von
seinem Großvater begeistert, weil man gegen ihn nicht aufbegehrte so
wie gegen den eigenen Vater. Kurz wünschte sich der Reporter, dass der
alte Mann noch am Leben wäre. Leider war das ein unerfüllbarer
Wunschtraum. Stuart Stark war vor fünf Jahren einem Herzinfarkt erlegen.
Toms Blick folgte noch immer den Nebelschlieren, die vom Fluss her auf ihn
zuwallten. Einige von ihnen umschlangen schon seine Beine. Sie wirkten wie
gierige Tentakeln eines verborgenen Monstrums, das auf Beute aus war. Ein
absurder Gedanke, aber an diesem einsamen Ort schien alles möglich zu
sein...
"Bruder Jakob" von Charlotte Engmann
Das Mondlicht spiegelte sich auf dem weißen Verputz des gedrungenen
Fachwerkhauses wieder und überzog die schwarzen Balken mit einem dunklen
Schimmer. Wie um diese nächtliche Stunde zu erwarten war, fiel kein
Licht durch die Fenster. Das Haus ruhte so friedlich wie seine Nachbarn,
die das idyllische Seitengässchen von Zons säumten. "Er geht nicht
ans Telefon." Lukas klappte das Handy zu und steckte es in die Jackentasche
zurück, ehe er noch einmal die Klingel betätigte. Erschreckend
laut schrillte sie durch den Flur auf der anderen Seite der Haustür.
"Vielleicht ist er ausgegangen. Oder in Urlaub gefahren", versuchte Perdita
eine Erklärung zu finden. Zwei Anrufe und mehrfaches Klingeln hätten
den Spielzeugmacher längst aus seinem Schlaf reißen
müssen.
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