Die Insel lag in tiefster Dunkelheit. Nicht einmal von den kleinen, verstreut
liegenden Gebäuden der einsamen Höfe drang Licht hinaus in die
Nacht. Die Bewohner dieser Gebäude schliefen längst. So wie es
auch das Vieh im Stall tat. Es schlief, um im Morgengrauen zu erwachen und
den Tag auf seine Art zu begrüßen. Mit wildem Geschnatter etwa,
einem gebieterischen Krähen oder einfach nur mit dem gegrunzten Gruß
an den Bauern, der die Tröge füllte und somit die Nahrung verteilte.
Es war absolut still. Selbst der Wind schien sich zur Ruhe begeben zu haben.
Sein Rauschen in den Ästen war verstummt, sein leises Wuscheln der
unzähligen Grashalme überall auf der Insel und sein klagendes Heulen
in den alten Bauten oberhalb des Klosters. Dort, wo die Steine lagen und
die Grenze zwischen dem Hier und Dort so dünn war, dass nur wenige der
Schwestern überhaupt dorthin durften. Es war, als habe sich der Wind
wie die Menschen und Tiere zum Schlafe niedergelegt, um in dieser einen Nacht
zu ruhen. Einem einsamen Spaziergänger wäre aufgefallen, dass allein
seine Schritte in der Dunkelheit zu hören waren und eine nahezu
ohrenbetäubende Stille durchbrachen. Ihm wäre sicherlich auch
aufgefallen, dass nicht einmal ein Nachtvogel schrie. Und von diesen Tieren
gab es viele im dichten Wald der Insel. Kein einziges ließ seine Stimme
hören. Und es knackten auch keine Äste, so wie sonst, wenn Nager
durch das Unterholz schlichen und die Eulen und Füchse sich auf die
Jagd begaben. Wenn Nüsse geknackt wurden oder Hasen eine Sasse scharrten.
Der See inmitten des Waldes lag still und geheimnisvoll im glitzernden Licht
eines vollen Mondes. Die Wasseroberfläche wirkte wie ein Spiegel, der
die Wolken und den Schimmer des Erdtrabanten wiedergab. Eine glatte, reglose
Fläche, die weder von aufsteigenden Luftblasen noch von Fischen,
Wasserläufern oder sonstigen Wesen in ihrer anmutigen Ruhe gestört
wurde. Auf manch einen mochte dieser Frieden angenehm wirken. Diese Ruhe,
die so selten war auf der Insel. Diese absolute Stille, in der man die
berühmte Nadel hätte fallen hören können, egal, wo man
sich gerade befand. Ja, es hätte sicherlich auf viele Menschen sehr
erholsam und beschaulich gewirkt. Manche hätten sich vermutlich sogar
dafür eingesetzt, dass dieser Frieden, diese Ruhe Bestand hatten. Doch
jenes filigrane Wesen, welches nun über den See schwebte und nahezu
angsterfüllt um sich schaute, wusste, dass diese Ruhe enden musste.
Denn sie war nicht normal, war nicht heilig und friedlich. Sie war böse
und von einer Magie heraufbeschworen, die so viel stärker war als seine
eigene. Auch wenn es noch nicht genau wusste, wer hierfür die Verantwortung
trug, spürte es doch den Odem des Bösen mit jedem Atemzug seiner
kleinen, durch die dünne Haut schimmernden Lungen. Das Flügelpaar,
welches das Wesen auf seinem Rücken trug, bewegte sich heftig. Schneller
als es nötig gewesen wäre, um sich in der Luft zu halten. Dieses
rasche Schlagen der Flügel war ein weiteres Indiz für die Angst,
welche das Wesen bei dem empfand, was es erlebte. Sein sanfter Körper
bebte, seine Augen schauten schreckgeweitet hinüber zum Rande der Lichtung,
in deren Mitte der See lag, der von einem kleinen Wasserfall gespeist wurde.
Bäume erhoben sich dort am Rand, hoch und mächtig. Aber da ihre
Äste nicht wie sonst vom Wind geküsst wurden, da sich ihre Wipfel
nicht neigten und die Blätter nicht raschelten, wirkten die Bäume
wie versteinerte Riesen, die mit ihren langen Armen in alle nur denkbaren
Richtungen greifen wollten. Das Wesen, welches nun die Mitte des Sees erreicht
hatte, schaute ihnen ängstlich entgegen. Es wusste, dass es etwas
unternehmen musste. Ihm war klar, dass es allein keine Chance hatte gegen
das, was über die Insel kroch. Und das Wesen wusste exakt, wen es um
Hilfe bitten musste. Die Flügel schlugen noch heftiger, als es sich
in Bewegung setzte und über den See zu den Bäumen flog. Es waren
nur Bäume. So, wie sie schon immer dort gestanden hatten, zwischen denen
es schon so oft hindurch geflogen war. Ausgelassen beim Toben mit Freunden
oder auch, um Nahrung zu sich in die Unterwelt zu holen. Denn dort, tief
unter der Erde, lebte das Wesen mit Seinesgleichen in einer Stadt, die noch
kein Mensch jemals erblickt hatte und auch niemals erblicken sollte. Ausgenommen
vielleicht jener Frau, zu der das Wesen nun unterwegs war. Sie war im Stande,
es zu beschützen. Sie war in der Lage, der Magie zu widerstehen, und
sie wusste vielleicht, wie man dem drohenden Unheil entgehen konnte, welches
sich über die Insel auszubreiten drohte.